Ich bin ganz schön naiv

Ohne Ernährungswende keine Klimawende











Wenn Deutschland 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr steckt, bin ich nicht so naiv zu denken, dass das Geld nicht an anderer Stelle, beispielsweise beim Klima, fehlen könnte. Aber ich bin naiv genug zu glauben, dass diese Entwicklung zu einer Bewusstwerdung in der Gastronomie führt, die die Klimawende ermöglicht. Was? Bundeswehr, Gastronomie, Klimawende? Jetzt mal der Reihe nach…

Ich kann schon der makabren Logik folgen, dass uns in den letzten Jahrzehnten die Existenz von Atomwaffen den Frieden gesichert haben. Dennoch bin ich so naiv zu glauben, dass Abrüstung der sicherere Weg zu Frieden ist als Aufrüstung. Statt weltweit immer mehr Waffen anzuschaffen, könnten alle Länder immer weniger haben. Bis zu dem Punkt, da zu wenig da ist, um Kriege zu führen. So naiv bin ich.

Wenn der BVMW (der Bundesverband mittelständische Wirtschaft – Unternehmerverband Deutschlands e. V. ) als Reaktion zum Ukraine-Konflikt die deutsche Regierung auffordert, den Ausstieg aus der Kohle unverzüglich auszusetzen und zu prüfen, ob nicht die verbliebenen Kernkraftwerke über das Jahresende hinaus am Netz bleiben sollten, bin ich so naiv zu glauben, dass die Regierung hierbei keine Kompromisse machen und diese Forderung zurückweisen wird. Stattdessen wird die Politik Unternehmen und Privathaushalte, sollten sie von Preissteigerungen existenzbedrohend betroffen sein, unterstützen, an der Energiewende aber festhalten.

Auch bin ich so naiv zu glauben, dass der Q7-Fahrer mit dem „Fuck you Greta“-Aufkleber, der mich gestern fast umgefahren hat, ebenso eine lebenswerte Welt für sich und seine Liebsten möchte wie ich und wir mit einem konstruktiven Austausch, gegenseitigem Respekt und dem Verständnis für die Verantwortung eines jeden einzelnen gemeinsam dahin gelangen können. Meine Naivität geht so weit, dass ich glaube, dass nicht die gesellschaftliche und mediale Diskreditierung von Andersdenkenden zu gewünschten Ergebnissen führt, sondern der Fokus auf das Gemeinsame, egal wie unterschiedlich man sich wähnt.

Wenn Rapperin badmómzjay reimt „sie hoffen, dass ich mal 'ne Pause brauch’’ / droppe Merch, sie komm'n nicht aus dem Staub / mach' kurz Wimpern und die Augenbrauen / fünf Minuten später alles ausverkauft“, ist das für mich nicht nur symbolisch für den gestiegenen Einfluss der Frauen und die Entmachtung der Männer im deutschen Rap, sondern verkörpert naiverweise für mich auch die Hoffnung, dass die weibliche Sicht auch in anderen Belangen immer mehr Gewicht bekommt.

Selbst in kleinen, ganz alltäglichen Dingen, wie dem Wassertrinken, bin ich ganz schön naiv. Denn ich glaube, dass wenn Menschen verstehen, welch enormen CO2-Impact das Hin-und-Her-Karren von Wasser in Flaschen hat, nämlich knapp ein Zehntel unseres individuellen CO2-Fußabdrucks, und dass es für sie sogar günstiger ist, ihre eigenen Flaschen dabei zu haben und auf Leitungswasser umzusteigen – und die Gastronomie wiederum versteht, dass man mit gefiltertem Leitungswasser klimafreundlich Geld verdienen kann – dass sich dann in Ländern mit guter Trinkwasserqualität der gesamte Klimakiller-Geschäftszweig „Wasser in Flaschen“ um 99 Prozent reduzieren wird.

Trotz der riesigen Menge an Plastikflaschen stammt übrigens das Plastik in unseren Meeren zu 50 Prozent aus alten Fischernetzen. Wenn Menschen das verstehen, so naiv bin ich zu glauben, werden sie beginnen, zu veganen Fischalternativen zu greifen – sobald ihnen die Gastronomie gut schmeckende, im Preis ebenbürtige Alternativen auf attraktive Weise anbietet. 

Genau wie Prof. Dr. Nick Lin-Hi (Wirtschaft und Ethik) glaube ich, dass wir uns aktuell im letzten Jahrzehnt der Massentierhaltung befinden, und zwar gerade weil günstige und hochwertige Fleischalternativen die klimafeindlichen, tierischen Produkte kurzfristig obsolet machen werden.

Denn eines weiß ich, egal wie naiv ich sein mag: Ohne Ernährungswende keine Klimawende. Unsere Ernährung macht ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen aus. Knapp drei Viertel davon sind durch tierische Produkte verursacht. Daher stellt unsere Ernährung im Augenblick den wirksamsten, weil am schnellsten umzulegenden Hebel im Hinblick auf den Klimaschutz dar.

Klimakatastrophen führen zu Umsiedlungen führen zu Kriegen. Viele Menschen wissen nicht, dass uns nur noch ein CO₂-Budget von etwa sieben Jahren zur Verfügung steht, um das Risiko unkontrollierbarer Umwelteffekte niedrig zu halten. Nur wenn wir unsere Ernährung umstellen, können wir die Zeit gewinnen, die erforderlich ist, damit erneuerbare Energien, Bäume pflanzen und technische Innovationen, CO2 zu binden, überhaupt ihre Wirkung entfalten können, bevor es zu spät ist.

Daher zurück zu Bundeswehr, Gastronomie, Klimawende. Wenn unser Steuergeld mehr ins Militär und weniger in die Energiewende fließt, ist es umso wichtiger, was wir essen. Es ist für zukünftige Generationen sogar überlebenswichtig, was wir heute essen.

Den meisten Menschen fällt es schwer, ihre Ernährungsgewohnheiten umzustellen. Deswegen ist die Gastronomie gefragt. Ob ein Restaurant seine Gäste mit einem klimafeindlichen oder einem klimafreundlichen Angebot verführt, ändert nichts an der gastronomischen Aufgabe mit Geschmack, Erlebnis und Atmosphäre zu überzeugen.

Vielleicht bin ich naiv, weil ich daran glaube, dass gerade die deutsche Gastronomie mit ihrer Fleischtradition weltweiter Vorreiter mit klimafreundlichen, pflanzenbasierten Angeboten sein, eine Ernährungswende herbeiführen und damit überhaupt die Klimawende ermöglichen wird. Vielleicht bin ich naiv, weil ich dran glaube, dass sich die Welt sehr wohl mindestens pflanzenbetont, wenn nicht sogar pflanzenbasiert ernähren kann.

Wenn ich mir die Welt anschaue (Krieg, Klimakatastrophe, humanitäre Katastrophen, Diabetes, Fettleibigkeit, Herzinfarkt …), dann kann mir – und ich kann mich natürlich täuschen – eine naive, auf einfachen Werten basierende Haltung manchmal als eher „zu Ende gedacht“ erscheinen, als die Lösungen, die uns an den heutigen Punkt gebracht haben.

Womöglich muss Naivität einfach nur eine kritische Masse erreichen, damit sie uns vernünftig erscheint.

Ein Beitrag von Balázs Tarsoly - Branding Cuisine GmbH & Co. KG

Über den Autor

Balázs Tarsoly ist Gründer und Geschäftsführer der auf Food und Nachhaltigkeit spezialisierten Kreativagentur Branding Cuisine. Er ist Autor des Buches „CO2lution – Gemeinsam. Klima wandeln. Jetzt.“ und Mentor am Edeka Food Tech Campus in Berlin mit den Schwerpunkten Markenkommunikation und Nachhaltigkeit.

Bild: Quelle | Adobe Stock, karepa