Geschmacksempfinden

bei Übergewicht











Prof. Dr. Andrea Maier-Nöth

Hochschule Albstadt-Sigmaringen

Bild: Quelle AdobeStock | Paolese

Gibt es Unterschiede im Geschmacksempfinden zwischen adipösen und normalgewichtigen Menschen? Könnte ein schwächer ausgeprägter Geschmackssinn Übergewicht und Adipositas begünstigen?

Adipositas entsteht in der Hauptsache durch eine übermäßige Zufuhr kalorienreicher Nahrung bei gleichzeitigem Bewegungsmangel. Doch was ist die Ursache dieses Essverhaltens, aus welchem häufig Übergewicht und folglich Adipositas resultieren?

Studien zeigen, dass Fettleibigkeit den Stoffwechsel schwächt und den Erneuerungsprozess unserer Geschmacksknospen reduziert. So fällt es adipösen Menschen oft schwerer, einen Geschmack und dessen Intensität zu erkennen und zu bewerten. Ein kleines Forscherteam der Hochschule Albstadt-Sigmaringen nahm sich der Frage an, ob die Zufuhr viel zu energiereicher Nahrung bei Adipositas auch auf ein verändertes bzw. abgeschwächtes Geschmacksempfinden der Betroffenen zurückzuführen ist. Der Versuch, das Geschmacksdefizit durch die Zufuhr von stärker gesüßten und fettigeren Lebensmitteln auszugleichen, würde den Kaloriengehalt der Nahrung maßgeblich steigern und eine Gewichtszunahme begünstigen.

In einer kleinen Studie, die im Rahmen einer Bachelorarbeit an der Kurpark-Klinik in Überlingen am Bodensee durchgeführt wurde, rekrutierte das Team je 16 normalgewichtige (Mittelwert des BMI: 22,1 kg/m 2 , Standardabweichung: 2,13) und 16 adipöse (Mittelwert des BMI: 35,9 kg/m 2 , Standardabweichung: 6,0) Probanden im Alter von 25 bis 51 Jahren, die jeweils vier verschiedene Geschmackstests absolvierten. Ein erster Test zeigte, dass Adipöse die Grundgeschmacksarten schlechter erkennen und zuordnen können. Jeder Proband erhielt insgesamt neun Proben, die je einen Grundgeschmack aufwiesen oder geschmacklos waren und ordnete diese der entsprechenden Grundgeschmacksart (Süß, Sauer, Salzig, Bitter oder Umami) zu. Die Ergebnisse zeigen, dass die Normalgewichtigen im Schnitt über 10 % mehr korrekte Ergebnisse erzielten, was auf eine allgemein unempfindlichere geschmackliche Wahrnehmung der Adipösen hindeuten könnte.

In weiteren Tests wurde die Empfindlichkeit der Probanden für die Geschmacksrichtungen Süß und Fettig entsprechend der Makronährstoffe Fett und Zucker überprüft, da diese aufgrund ihres Kaloriengehalts die Energiezufuhr maßgeblich beeinflussen. Hierbei zeigte sich, dass die Adipösen sehr viel schlechter in der Lage waren, zwei verschiedene Süßegrade zu unterscheiden (69 % erkannten keinen Unterschied, während es bei den Normalgewichtigen nur 25 % waren). „Diese statistisch signifikanten Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass die Adipösen tatsächlich weniger empfindlich für süßen Geschmack sind“ so Kim Baumann, LEH Studentin der Hochschule Albstadt-Sigmaringen, die die Studie durchführte. Bei dem Geschmackstest für Fettig zeigte sich ebenfalls, dass Adipöse die verschiedenen Fettgehalte schlechter unterscheiden konnten: 50 % erkannten keinen Unterschied, während es bei den Normalgewichtigen nur 38 % waren. „Diese Ergebnisse sind nicht so eindeutig wie zuvor für süßen Geschmack, jedoch zeigt sich hier ebenfalls der Trend dafür, dass die Adipösen in den Geschmackstests schlechter abschneiden“ kommentiert Prof. Dr. Andrea Maier-Nöth, Professorin für Sensorik, Konsumentenforschung und Ernährungswissenschaften, die die Studie betreute.

Weiter wurde auch die Vorliebe der Probanden für Fruchtjoghurt mit unterschiedlichen Zuckergehalten, d.h. unterschiedlich intensiver Süße getestet. Die Probe ohne Zucker wurde hierbei von den Adipösen im Schnitt schlechter bewertet als von den Normalgewichtigen. Bei den gesüßten Proben zeigt sich ein gegenteiliges Ergebnis: Die gesüßten Proben erhielten von den Adipösen durchgehend bessere Bewertungen als von den Normalgewichtigen. Daraus schloss das Forscherteam, dass Adipöse generell eine größere Vorliebe für Süßes aufweisen und stärkere Süßegrade bevorzugen als Normalgewichtige.

Ein Vergleich der Ergebnisse für süße Wahrnehmung und Präferenz zeigt: Eine abgeschwächte Wahrnehmung für süßen Geschmack steht bei Adipösen mit dem Wunsch bzw. der Vorliebe für intensiveren süßen Geschmack in Verbindung. Die Adipösen, die zwei verschieden süße Proben nicht unterscheiden konnten und daher eine unempfindlichere Süßwahrnehmung haben, bevorzugten auch gleichzeitig stärker gesüßte Proben. Bei den Normalgewichtigen konnte ein solcher Zusammenhang jedoch nicht festgestellt werden. Zusammenfassend konnten die Normalgewichtigen bei allen durchgeführten Tests durchweg bessere Ergebnisse erzielen als die Adipösen. Generell lässt sich aus diesen Ergebnissen ableiten, dass Adipöse Grundgeschmacksarten schlechter identifizieren können, eine unempfindlichere Wahrnehmung von süßem Geschmack haben und süßere Lebensmittel im Vergleich zu Normalgewichtigen bevorzugen.

Einen möglichen therapeutischen Ansatz sieht Prof Maier-Nöth in einem bewussten Training des Geschmacks mit nachhaltiger Gewichtsreduktion. Der Einstieg in dieses Geschmackstraining könnte idealerweise ein paar Tage Heilfasten nach Buchinger und Lützner sein, so Frau Wagner, 2. Betreuerin des Projektes und Leiterin der Abteilung Ernährungsberatung und Gesundheitstraining in der Kurpark-Klinik in Überlingen. Dieses kurzfristige „Nichtessen“ würde helfen, die Geschmacksknospen zu sensibilisieren und übergewichtige und adipöse Menschen darin unterstützen, gemeinsam mit einem bewussten Training des Geschmacks, ihr natürliches Geschmackserlebnis wiederzuerlangen.