Fleisch als Kulturgut: 

Traditionen und Dynamiken

DR. LARS WINTERBERG • Prof. DR. GUNTHER HIRSCHFELDER

Bild: Quelle AdobeStock | timolina

Spätestens seit der Wende zum 21. Jahrhundert erfahren alle Facetten der Ernährung weit über Deutschland hinaus eine ungeheure Thematisierungskonjunktur. Über Essen und Trinken werden Lebensstile definiert, politische Bekenntnisse abgegeben oder Positionen von Weltrettung bis Körperoptimierung artikuliert. Dabei steht eine Lebensmittelgruppe besonders im Fokus: Fleisch.

Über Fleisch wird intensiv diskutiert, gestritten und polemisiert: Auf der einen Seite geht es um Physiologisches: Welche Risiken birgt rotes Fleisch? Wie gesund sind Steak, Kotelett und Bratwurst? Und welches Fleisch ist besonders geeignet, um das Muskelaufbautraining zu unterstützen? Es geht aber auch um ökologische und ethische Fragen: Darf man in Anbetracht der Erderwärmung, aber auch angesichts der Tierwohl- und Tierrechtsdebatten überhaupt noch Fleisch essen? Welcher Umgang mit Tier und Fleisch erscheint heute als erstrebenswert? Es herrscht eine massive „consumer confusion“ (Hirschfelder 2014).

Kulturen des Fleisches

Wie das Essen selbst ist auch unser Umgang mit und der Verzehr von Fleisch ein soziales Totalphänomen. Fleisch ist Kulturgut, ist in seiner vielfältigen Ausgestaltung Menschenwerk. Der Mensch domestizierte und züchtete Tiere, er passte sie über Jahrtausende seinen Vorstellungen an – vor allem im Hinblick auf ihre „Fleischleistung“, sprich auf bestimmte Quantitäten und Qualitäten gewünschter Lebensmittel. Unsere Viehhaltung dient primär der (Milch- und) Fleischgewinnung. Sie ist Ausdruck ihrer Zeit, spiegelt landwirtschaftliche Erkenntnisse, technologische Innovationen und gesellschaftliche Diskurse. Ob Käfighaltung als Fortschritt gefeiert oder als Tierquälerei verboten wird, ist also abhängig von der Bewertung und Aushandlung abweichender Parameter (z. B. Effizienz oder Tierwohl).

Dem Fleisch kommt in allen Kulturen eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung zu, als Proteinquelle, aber auch hinsichtlich seiner sozialen und religiösen Symbolkraft. Fleisch ist Distinktionsmittel, sein Konsum hat Prestige- und Statusfunktionen. Es gilt traditionell als Kraftquelle und ist häufig männlich konnotiert – im Gegensatz zu einer eher vegetabilen und damit vermeintlich weiblichen Ernährung. Fleisch bedeutet aber auch Wissen: um die „richtige“ Zucht und Haltung, um Techniken und Verfahren der Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung, Lagerung und Zubereitung. Die Herstellung von Fleisch- und Wurstwaren ist Handwerkskunst, ist als solche tradiert, gilt manchen gar als bedroht und damit schützenswert: Fleisch als (im-)materielles Kulturerbe.

Um zu verstehen, welche Bedeutung Fleisch in unserer Gesellschaft hat, welchen Einflüssen diese unterworfen ist und wie sich unsere Bewertung von und unser Verhältnis zu Fleisch wandelt, ist ein Blick in die Geschichte der Menschheit unumgänglich (vgl. Langthaler 2016; Hirschfelder, Trummer 2013; Mann 2007; Hirschfelder 2006; Hirschfelder 2005; Teuteberg 1986).

Vor- und Frühgeschichte: Am Anfang war das Feuer 

Der Zugriff auf amino- und fettsäurehaltige Nahrungsmittel war für die Entwicklung der Omnivoren essenziell. Schon die frühen Hominiden setzten auf tierische Proteinträger: das Fleisch aller jag- und fangbaren Tiere inklusive Reptilien und Insekten sowie Fisch, Schalenweich- und Krustentiere. Ihre Ernährung war dennoch überwiegend pflanzlich. Erst im Laufe der Zeit erschlossen sich unsere Vorfahren weitere Proteinquellen. Es gelang, das Spektrum der Jagdbeute zu erweitern, so dass nicht mehr nur Kleintiere auf dem Speiseplan standen, sondern auch große Säuger wie Höhlenbär, Wollnashorn oder Mammut. Mit der Entdeckung des Feuers vor etwa 300.000 Jahren und seiner permanenten Nutzbarmachung vor rund 80.000 Jahren mussten unsere Ahnen Fleisch dann auch nicht mehr ausschließlich roh essen. Die Eiweißversorgung wurde stabiler und das Überleben der Gattung Mensch sicherer. Mit dem regelmäßigen Verzehr von Fleisch stieg evolutionär das Hirnvolumen des homo sapiens neanderthalensis und des zeitgleich auftretenden modernen Menschen homo sapiens sapiens im Mesolithikum vor 50.000 Jahren auf unser heutiges Niveau. 

Im Zuge der Neolithischen Revolution entwickelten sich vor etwa 12.000 Jahren im Vorderen Orient und vor 7.500 Jahren in Europa nicht nur Ackerbau und Sesshaftwerdung; vielmehr begann man, Wildtiere zu domestizieren. Ziege, Schaf, Rind, Schwein und Geflügel machten die Nahrungsaufnahme deutlich stabiler. Auch ihre Zubereitung wurde allmählich komplexer; man röstete, briet, dämpfte oder kochte, aber man aß auch trocken zerkleinert und mit Fett vermischt.

Im alten Ägypten hatte das Rind als Fleischlieferant und Arbeitstier überragende Bedeutung. Schaf und Ziege wurden in großer Zahl gehalten und häufig gegessen. Das Schwein war vor allem in der ägyptischen Frühzeit ebenso weit verbreitet wie beliebt. Es verlor jedoch bereits im Alten Reich seinen guten Ruf, wenn es die breite Bevölkerung auch weiterhin aß. Deren Kost war ohnehin weitgehend pflanzlich geprägt. Wurde Fleisch verzehrt, dann tendenziell gekocht, denn Mangelgesellschaften konnten es sich nicht leisten, Fett durch das Braten auf dem Rost zu vergeuden.

In der griechischen Antike spielte Schweinefleisch eine bedeutende Rolle. Es hatte den Vorteil, dass man es durch Pökeln haltbar machen konnte. Auch zur Wurstherstellung eignet(e) es sich besser als das Fleisch anderer Tiere. Ferkel galten als besondere Delikatesse. Rind, Ochse und Kalb wurden offenbar nur selten gegessen. Anders verhielt es sich mit den tierischen Innereien: Wie in den meisten Gesellschaften wurde so gut wie alles verwertet. Schnauzen, Nasenscheidewände oder Bindegewebsfetzen verarbeitete man zum Beispiel vorwiegend zu Wurst.

Schon die frühen Menschen jagten und aßen Tiere. Protein- und fetthaltige Nahrungsmittel waren für unsere Entwicklung essenziell.
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Am Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends wurde das Imperium Romanum für den europäischen, nordafrikanischen und vorderasiatischen Raum immer prägender. Das Nahrungssystem der Römer fußte zum Teil auf griechischen Traditionen. Beim Fleisch allerdings war man vielseitiger. Und es gab einen anderen Umgang mit dem Tier, das endgültig zum Nutztier geworden war. Hoher Fleischkonsum blieb aber auch im antiken Rom Privileg der Oberschicht. Der Konsum lag deshalb nur bei etwa 20 Kilogramm pro Kopf und Jahr.

Anders sah die Situation in Nord- und Mitteleuropa aus: In der keltischen und germanischen Bevölkerung herrschte Weidewirtschaft vor und damit Fleisch. Auch das Schwein, das mitunter in den Wald getrieben wurde, war schon früh wichtig. Jagd, Fischfang und Gemüsebau waren ebenfalls bedeutend, Getreidebau weniger zentral.

Im Mittelalter aßen die Menschen in Europa sehr viel Fleisch, vor allem Schwein.
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Fleischkonsum in Mittelalter und Neuzeit 

Um 400 nach Christus läutete die Völkerwanderung das Ende der antiken Welt ein. Es kam zur Verschmelzung von antik-mediterranen und germanisch-keltischen Elementen, also von einer überwiegend pflanzlichen Ernährung einerseits und einer vor allem auf tierische Produkte ausgelegten Esskultur andererseits. In Mittel- und Nordeuropa war Fleisch besonders wichtig, und zwar meistens gekocht. Wenn man es räucherte oder pökelte, war es haltbar. Die meisten Menschen aßen zumindest in guten Jahren selbst im Vergleich zu heute außerordentlich große Mengen Fleisch, möglicherweise bis zu 100 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Viel zu essen galt vor allem beim Adel als Zeichen von hohem gesellschaftlichen Rang. Die Mahlzeiten waren von enormen Mengen gekennzeichnet – vor allem an einfach zubereitetem Fleisch. Was die Qualität der Produkte betraf, gab es im frühen Mittelalter kaum soziale Unterschiede.

Im 10. Jahrhundert erfuhren Wirtschaft und Fleischkonsum einen tiefgreifenden Wandel. Das hochmittelalterliche Klimaoptimum führte zu einem Ausbau der Getreidewirtschaft und in der Folge auch im 11. und vor allem im 13. Jahrhundert zu einer Welle von Städtegründungen. Und das hatte Folgen: Zum einen waren Landwirtschaft und Kultur nun nicht mehr extrem auf Nutztiere ausgerichtet, zum anderen professionalisierte sich der Umgang mit Tieren wegen der Stadt- und Geldwirtschaft: Es entstanden zahlreiche Handwerksberufe, die sich mit der Verwertung von Tieren befassten. Verschiedene Grabungsfunde deuten darauf hin, dass das Hausschwein weiterhin besonders beliebt war. Mit deutlichem Abstand folgten Hausrind, Schaf und Ziege. Auch Pferde wurden, wenn sie ihr Arbeitsleben hinter sich hatten, verzehrt. Wild spielte im alltäglichen Speiseplan nur eine geringe Rolle, auch Hühner und Gänse waren marginal. Die Jagd war dem Adel vorbehalten; entsprechend besaß Wild eine hohe Wertigkeit. Gekochtes Suppenfleisch bildete die einfachste und billigste Zubereitungsart, was auch daran lag, dass es oft von älteren Nutztieren stammte; Braten hingegen war deutlich teurer und angesehener.

Wie viel Fleisch die Menschen im Hoch- und Spätmittelalter aßen, lässt sich nur schwer schätzen. Die Menge dürfte jedenfalls kontinuierlich gewachsen sein und etwa zur Mitte des 15. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht haben. Allerdings wies die Versorgung große Schwankungen auf. Meist wurde im Herbst geschlachtet, so dass es von November an zunächst viel Fleisch zu essen gab, während die Portionen im Frühjahr immer kleiner wurden. Schließlich gab es auch Unterschiede zwischen der ländlichen Ernährung, die von Phasen des Mangels und von Phasen des Überflusses geprägt war, und dem Fleischkonsum in den mittelalterlichen Städten. Besonders die spätmittelalterliche Stadtgesellschaft war in ihrem sozialen Aufbau differenzierter. Parallel bildeten sich regionale Spezifika aus.

Wenn unterschiedliche soziale Gruppen zusammenleben, besteht prinzipiell das Bedürfnis nach Abgrenzung und Statusrepräsentation. Diesem Bedürfnis trug man vor allem mit Hilfe des Essens Rechnung, so dass die Fleischzubereitung vielfältiger wurde. Soziale Differenzierung und Arbeitsteilung führten ferner zur Herausbildung ernährungsspezifischer Berufe wie Schlachter, Fleischer und Metzger.

Mit dem Übergang zur Neuzeit um 1500 erfuhren weite Bereiche des Lebens tiefgreifende Transformationen. Die Strukturen des Fleischverzehrs änderten sich jedoch kaum; lediglich die Mengen schwankten erheblich. Zwischen 1500 und 1800 ging der Fleischverbrauch massiv zurück. Religionsstreitigkeiten in Folge von Reformation und Gegenreformation hatten sich zum Dreißigjährigen Krieg ausgeweitet, der zwischen 1618 und 1648 weite europäische Landstriche verwüstete. Hinzu kamen Veränderungen im Agrarsektor: Auf den wachsenden Gutsbetrieben im Osten bauten beispielsweise immer mehr Landarbeiter Getreide für den Export an. Sie wurden so schlecht entlohnt, dass sie sich kaum Fleisch leisten konnten. Der Verbrauch lag um 1800 nur noch bei rund 16 Kilogramm pro Kopf und Jahr, sodass sich ein Proteinmangel einstellte, der weite Teile der Bevölkerung betraf. Die tatsächlich konsumierte Menge war in besonderem Maße von sozialen Zugehörigkeiten (z.B. Stand) sowie räumlicher (z. B. Stadt/Land) und zeitlicher Verortung (z. B. Konjunkturen) abhängig. Übergewicht galt in der Vormoderne als Schönheitsideal, gebratenes Fleisch als Zeichen von Reichtum und Macht.

Tier und Fleisch im Zeitalter der Industrialisierung

Mit der Industrialisierung wurde Fleisch von einer Mangelware zum Alltagsprodukt breiter Massen – allerdings langfristig und mit steigendem Wohlstand. Die Frühphase bis etwa 1850 war weiterhin von Mangelernährung und periodischen Hungersnöten gekennzeichnet. Ab etwa 1830 stieg der Verbrauch kontinuierlich und erreichte um 1900 etwa 50 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Schweinefleisch avancierte zum Marktführer. Rind, Geflügel und Wild blieben teuer und bereicherten eher die Tische der Ober- und Mittelschicht. Besonders in den bürgerlichen Kochbüchern des 19. Jahrhunderts zeigt sich, wie stark die Ernährung auf Fleisch ausgelegt war. Außer freitags, wenn in katholisch geprägten Gebieten traditionell Fisch auf dem Speiseplan stand, war jeden Tag Fleisch vorgesehen. Speck, Schinken und Würste aus Schweinefleisch kamen besonders häufig vor. Bei nicht verarbeitetem Fleisch hingegen, vor allem für den obligatorischen Sonntagsbraten, waren Rind-, Kalb- und Hühnerfleisch beliebt.

Gerade im Spiegel der Koch- und Ratgeberliteratur wird deutlich, dass Menschen, die vorher ihre Nahrung selbst angebaut hatten, nun vieles zukaufen mussten und sich von der Lebensmittelerzeugung entfremdeten. Fleisch nahm man so zunehmend als ein vom Tier losgelöstes Produkt wahr.

Die beiden Weltkriege brachten temporär Not und Mangel zurück. So war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von kriegsbedingtem Mangel geprägt. Der Fleischverbrauch ging rapide zurück. Das Ernährungssystem wurde dadurch aber nicht erschüttert. Eher fiel der Sonntagsbraten kleiner aus oder fehlte zuweilen ganz. Der Nationalsozialismus propagierte durchaus schmale und fleischarme Kost, das Regime suchte sich aber das Wohlwollen der Volksgemeinschaft zu erkaufen, indem es für eine möglichst gute Fleischversorgung sorgte – wie schon im Ersten Weltkrieg vor allem an der Front.

Die 1950er-Jahre waren von Wirtschaftswunder und deutlichen Konsumsteigerungen geprägt. Von anfangs rund 35 Kilogramm pro Kopf und Jahr wuchs der Verzehr in den 1960er-Jahren auf über 60 Kilogramm – und hält sich seither mit plus/minus drei Kilogramm auf diesem vergleichsweise hohen Konsumplateau. Dieses Muster traf auch auf die DDR zu. Dort erkannte die staatliche Planung die hohe Wertigkeit des Fleischs und stellte eine mit der BRD vergleichbare Versorgung sicher.

Global nimmt man eine Korrelation zwischen Einkommen/Wohlstand und Fleischkonsum an (z. B. ca. 125 kg/Kopf/Jahr in den USA), wobei ein hohes Konsumniveau teils auch mit traditioneller Viehhaltung und nomadischer Lebensweise in Verbindung steht. In der Mongolei liegt der Verbrauch pro Kopf und Jahr beispielsweise bei 95 Kilogramm.

Als weltweites Sinnbild für die enormen Produktivitäts- und Effizienzsteigerungen – besonders in Verbindung mit dem Ausbau des Schienenverkehrs und Innovationen im Bereich der Kühltechnik – können die amerikanischen Union Stock Yards gelten, in denen die Tötung und Zerlegung von Schlachtvieh im Sinne industrieller Fließbandproduktion organisiert wurde. Das Prinzip hat bis heute Bestand. Zu Spitzenzeiten in den 1920er-Jahren wurden in den Chicagoer „Yards“ mehr Tiere pro Tag und Jahr geschlachtet als an jedem anderen Ort der Welt. Über 40.000 Mitarbeiter stellten zeitweise über 80 Prozent der US-Fleischproduktion sicher.

Waren Tierhaltung, Schlachtung und Fleischverarbeitung bis ins 19. Jahrhundert hinein noch buchstäblich in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt, sprich in den Zentren von Dörfern und Städten, verlagerte sich das im Zuge der Industrialisierung in die Peripherien. Die Eisenbahn wurde zum Taktgeber und begünstigte die Zentralisierung, weil man Tiere und gekühltes Fleisch nun über weite Distanzen befördern konnte. Wo zunächst Flüsse zentral waren, in die man Schlachtabfälle unmittelbar entsorgte, entstand allmählich ein Hygienebewusstsein. Der moderne Schlachthof erschien als ordnungspolitische Notwendigkeit: Er sollte der Gesundheitsvorsorge dienen, also Seuchen vorbeugen und Fleischqualität sicherstellen, ein „humanes Töten“ (Bolzenschussapparat) ermöglichen, Arbeitsschutz gewährleisten, Arbeitsabläufe und Kontrollen vereinfachen (Nieradzik 2017). Und tatsächlich ließen sich wesentliche Ziele langfristig erreichen. Zunächst wurden jedoch Problemlagen sichtbar: So erlangten die „Yards“ weltweite Berühmtheit durch die Sozialreportage „The Jungle“ von Upton Sinclair (1906), der drastische soziale und hygienische Missstände öffentlich machte und damit grundsätzlich auf mögliche Nebenfolgen industrialisierter Produktion aufmerksam machte. Seine Darstellungen der ökologischen Belastungen, des mangelhaften Arbeits- und Tierschutzes, der Ausbeutung von Arbeitskräften und der teils skandalösen Lebensmittelqualität verunsicherte die fleischfokussierten Gesellschaften Nordamerikas und Europas bis ins Mark. Das tat zwar einer fortschreitenden Konsumsteigerung keinen Abbruch, hinterließ aber Spuren.

Fleisch in der Moderne: Skepsis und Skandale

Intensivtierhaltung und industrialisierte Fleischproduktion stehen in der Öffentlichkeit bis heute weniger für Ernährungssicherheit denn für Profitorientierung und Intransparenz. Die Bereitstellung von Fleisch entlang primär ökonomischer Gesichtspunkte löst Unbehagen und Misstrauen aus. Auch im Übergang zum 21. Jahrhundert verstärken und festigen mit gewisser Regelmäßigkeit auftretende Lebensmittelskandale Skepsis und Vorbehalte:

Bild: Quelle AdobeStock | Alexander
Im Zeitalter der Industrialisierung wurde Fleisch zum Massenprodukt.

• „Hormonfleisch“ von Kälbern (1980er),

• die sogenannte BSE-Krise (1990er),

• durch Industriefette und Pflanzenschutzmittel mit Dioxin und Nitrofen belastete Futtermittel (2000er),

• mit antibiotikaresistenten Keimen, Salmonellen und Listerien verunreinigte Geflügel-, Fleisch- und Wurstprodukte (2010er) – und

• immer wieder Schlagzeilen zu „Ekel-“ oder „Gammelfleisch“.

Im Zeitalter der Globalisierung sind Tierhaltung und Fleischproduktion grenzüberschreitend und komplex, erfordern auf vielfältigen Ebenen Expertentum und Spezialwissen und entziehen sich zudem weitgehend der persönlichen Erfahrung von Bevölkerungsmehrheiten. Verbraucher betreten kaum einmal einen modernen Schweinestall – und wollen es in der Regel auch nicht. Sie leben mit idealisierten Vorstellungen, die sich aus Bauernhofromantik und Werbebildern speisen, die aber gleichzeitig durch medial vermittelte Skandale und mediale Skandalisierung konterkariert werden. Wunsch und (vermittelte) Wirklichkeit lassen sich vermeintlich immer seltener in Einklang bringen. So wird unser Misstrauen weiter genährt – zumal die Branche über Jahrzehnte eher defensiv agierte, sich wenig transparent gab und mit ihrer Produktkommunikation zur verzerrten Wahrnehmung beitrug. 

Dass es das rundum glückliche Schwein im idyllischen Hof auch historisch so nie gegeben hat, selbst kleine Ställe oft dunkel, feucht und dreckig waren, Tiere teils unzureichend versorgt und schlecht gehalten wurden, dass eine ökonomisch möglichst effiziente Verwertung von Tier und Fleisch immer der Normalfall war, die Fleischqualität häufig bedenklich und ernährungsbedingte Erkrankungen und Todesfälle an der Tagesordnung waren, das ist heute wenig bekannt. 

Doch nicht nur Tierhaltung und Fleischproduktion gerieten in die Kritik, auch Konsum und Essgewohnheiten standen am Pranger. Bereits die antike Diätetik hatte mit ihrer humoralpathologischen Ausrichtung für eine bewusstere Ernährung sensibilisiert. Be- und Einschränkungen, der (temporäre) Verzicht etwa in Fastenzeiten und (religiöse) Nahrungstabus haben eine lange Tradition. Und doch setzte mit der Lebensreformbewegung eine grundlegendere Kritik an den Ess- und Trinkgewohnheiten ein, die sich nicht nur gegen Alkohol, Kaffee oder Zucker, sondern explizit auch gegen den Verzehr von Fleisch richtete. Überhaupt reflektierte man verstärkt das eigene Leben in seinen Umweltbezügen, was bereits Aspekte der späteren Ökologiebewegung vorwegnahm. Mit populärwissenschaftlichen Publikationen wie „Silent Spring“ (1962) und den „Limits to Growth“ (1972) schufen die Biologin Rachel Carson und der Club of Rome später ein neues Bewusstsein für ein fragiles globales Ökosystem und eine offenbar notwendige Abkehr von dominanten Wirtschafts- und Konsumweisen – nicht zuletzt im Hinblick auf den Umgang mit anderen Arten, also auch Nutztieren und Fleisch. Allmählich wurde auf diese Weise eine prinzipielle Kritik am Fleischkonsum populärer, und Ernährungsstile, die den Fleischverzicht zum zentralen und identitätsstiftenden Baustein erkoren, rückten seit den 1980er-Jahren vom gesellschaftlichen Rand in die Mitte. 

Seit der Wende zum 21. Jahrhundert erscheinen diese einerseits zunehmend fluide, Grenzen verschwimmen (z. B. im Flexitarismus) und Motivlagen überschneiden sich. Andererseits fallen Positionen extremer und offensiver aus (z. B. im Veganismus oder im Entwurf des Karnismus) (Joy 2009). Immer häufiger werden sie tierethisch fundiert. Vor dem Fleischgenuss stehe demnach Tierleid und – in besonders radikaler Auslegung – Mord.

Fast ein Drittel des Ackerlands weltweit dient dem Futtermittelanbau. Können wir uns das noch leisten?
Bild: Quelle AdobeStock | Raphael Koch

„Fleischwissen“ heute

Fleisch und Fleischkonsum sind seit Jahrhunderten als besonders wertig tradiert. Im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert wurde diese Wahrnehmung jedoch brüchig. Der Verzehr von Fleisch gilt heute keineswegs unwidersprochen als Ausdruck von Macht und Wohlstand oder Vitalität und Stärke (Trummer 2015). Er wird zunehmend auch zur Chiffre für Fehlernährung, Umweltzerstörung und Tierleid. In der Kritik stehen Aspekte wie Flächenfraß, Landgrabbing, Wasserverbrauch, Emissionen und Artensterben: Fruchtbarer Boden ist ungleich verteilt – global und sozial. Land ist wertvoll, wird gehandelt, ist Spekulationsobjekt. Nach Berechnungen der britischen Nicht-Regierungsorganisation Oxfam wurden zwischen 2001 und 2011 mehr als 227 Millionen Hektar – „an area the size of Western Europe“ (Oxfam 2011: 2) – allein in den sogenannten Entwicklungsländern verkauft oder verpachtet. Dabei dient fast ein Drittel des gesamten Ackerlands weltweit dem Futtermittelanbau. Insgesamt verbraucht die Viehhaltung etwa 70 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche und rund zehn Prozent des globalen Süßwasserverbrauchs (FAO-GLEAM). Auch bis zu einem Drittel des Biodiversitätsverlustes wird diesem Sektor zugeschrieben. Insbesondere CO2, Methan, Lachgas, Ammoniak und Nitrate gelten als ökologische Belastungen. Aktuell gerät unter dem Eindruck von Bewegungen wie „Fridays for Future“ vor allem die Klimabilanz von Tierhaltung, Fleischproduktion und -konsum in den Blick. Im Fokus stehen aber auch die Tiere selbst und ihre artgerechte Haltung (Abé 2019). Gerade in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung handeln heterogene Akteure Deutungshoheiten und Einfluss, Macht und Profit, aber auch Entwürfe eines „besseren“, „richtigen“ oder „guten Lebens“ aus (Winterberg 2020, 2017). Entsprechend intensiv wird in unserer Gesellschaft um das „Fleischwissen“ gerungen.

Fazit: Die Zukunft auf dem Tisch

Wie lässt sich vor dem Hintergrund der Traditionen und Dynamiken im Umgang mit Tier und Fleisch ein Blick in die Zukunft richten? Die letzten 30 bis 50 Jahre haben gezeigt, dass sich zumindest in Teilen der Gesellschaft eine Sensibilisierung für die Nebenfolgen dominanter Wirtschafts- und Konsumweisen ausprägt und allmählich verstetigt hat. Das legt eine fortschreitende Ausdifferenzierung des Produktangebots analog zu bestimmten Ernährungsstilen und -trends nahe – vielleicht auch mit einer wachsenden Orientierung der konventionellen an biologisch-ökologischer Landwirtschaft. Ob im Zuge sich verstärkender Klimafolgen mittelfristig neben „Flugscham“ auch „Fleischscham“ populärer wird, ist zwar ungewiss, im Hinblick auf eine kulturhistorisch tiefe Verwurzelung unserer Essgewohnheiten jedoch eher unwahrscheinlich. Gleichwohl künden Visionen wie „In-vitro-Fleisch“ und konkrete Angebote wie „beyond meat“ von einer Post-Fleisch-Ära: Noch sind solcherlei Produkte offenkundig tradierten Mustern verhaftet und adressieren unser Bedürfnis nach tierischer Kost. Sie schlagen aber vielleicht auch Brücken in eine Zeit, in der unsere Proteinversorgung ganz ohne Viehhaltung gedacht und realisiert werden kann. Angesichts wachsender Weltbevölkerung, sich verschärfender Ressourcenkonflikte und einer weltweiten Bedrohung durch klimabedingte Extremwetterereignisse dürften Fragen nach globaler wie lokaler Ernährungssicherheit weiter an Bedeutung gewinnen. Schon jetzt suchen unterschiedliche Akteure nach Antworten, etwa in Verbindung mit bioökonomischen Innovationen. Diese könnten vielleicht schon mittelfristig Problemlagen entspannen, etwa wenn Algen oder Insekten die Proteinbasis von Viehfutter bilden. 

Zwar ist die Kristallkugel des Historikers bekanntlich wenig zuverlässig – der Blick zurück in die Zeit des Mangels könnte allerdings dem Blick voraus ähnlicher sein, als uns lieb ist. Denn in kulturhistorischer Perspektive lassen sich aktuelle Debatten um Tierwohl oder Veganismus als Luxusphänomen verstehen, als Ausdruck einer glücklichen, aber vielleicht begrenzten Phase von Wohlstand und Überfluss. Noch sind wir daran gewöhnt, dass Fleisch und andere Lebensmittel in großer Menge und hoher Qualität (fast) ständig verfügbar sind. Mit Blick auf die Geschichte des Menschen und seine Ernährung fallen die letzten 150 Jahre aber kaum ins Gewicht. Die Folgen des Klimawandels, die Fragilität des Friedens in der westlichen Welt, die Ausbreitung neuer Seuchen und drohende Antibiotikaresistenzen mahnen neue Phasen der Unsicherheit und des Mangels an. Verzicht hätte dann weniger mit Identität denn mit Verfügbarkeit zu tun. 

Der Beitrag steht in Verbindung mit dem aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekt „Verdinglichung des Lebendigen. Fleisch als Kulturgut“ (Förderkennzeichen 01UO1817A). Weiterführende Informationen zu Projekt und Verantwortlichen unter http://fleischwissen

blogspot.com/ (6.12.2019).

Fazit: Die Zukunft auf dem Tisch

Wie lässt sich vor dem Hintergrund der Traditionen und Dynamiken im Umgang mit Tier und Fleisch ein Blick in die Zukunft richten? Die letzten 30 bis 50 Jahre haben gezeigt, dass sich zumindest in Teilen der Gesellschaft eine Sensibilisierung für die Nebenfolgen dominanter Wirtschafts- und Konsumweisen ausprägt und allmählich verstetigt hat. Das legt eine fortschreitende Ausdifferenzierung des Produktangebots analog zu bestimmten Ernährungsstilen und -trends nahe – vielleicht auch mit einer wachsenden Orientierung der konventionellen an biologisch-ökologischer Landwirtschaft. Ob im Zuge sich verstärkender Klimafolgen mittelfristig neben „Flugscham“ auch „Fleischscham“ populärer wird, ist zwar ungewiss, im Hinblick auf eine kulturhistorisch tiefe Verwurzelung unserer Essgewohnheiten jedoch eher unwahrscheinlich. Gleichwohl künden Visionen wie „In-vitro-Fleisch“ und konkrete Angebote wie „beyond meat“ von einer Post-Fleisch-Ära: Noch sind solcherlei Produkte offenkundig tradierten Mustern verhaftet und adressieren unser Bedürfnis nach tierischer Kost. Sie schlagen aber vielleicht auch Brücken in eine Zeit, in der unsere Proteinversorgung ganz ohne Viehhaltung gedacht und realisiert werden kann. Angesichts wachsender Weltbevölkerung, sich verschärfender Ressourcenkonflikte und einer weltweiten Bedrohung durch klimabedingte Extremwetterereignisse dürften Fragen nach globaler wie lokaler Ernährungssicherheit weiter an Bedeutung gewinnen. Schon jetzt suchen unterschiedliche Akteure nach Antworten, etwa in Verbindung mit bioökonomischen Innovationen. Diese könnten vielleicht schon mittelfristig Problemlagen entspannen, etwa wenn Algen oder Insekten die Proteinbasis von Viehfutter bilden. 

Zwar ist die Kristallkugel des Historikers bekanntlich wenig zuverlässig – der Blick zurück in die Zeit des Mangels könnte allerdings dem Blick voraus ähnlicher sein, als uns lieb ist. Denn in kulturhistorischer Perspektive lassen sich aktuelle Debatten um Tierwohl oder Veganismus als Luxusphänomen verstehen, als Ausdruck einer glücklichen, aber vielleicht begrenzten Phase von Wohlstand und Überfluss. Noch sind wir daran gewöhnt, dass Fleisch und andere Lebensmittel in großer Menge und hoher Qualität (fast) ständig verfügbar sind. Mit Blick auf die Geschichte des Menschen und seine Ernährung fallen die letzten 150 Jahre aber kaum ins Gewicht. Die Folgen des Klimawandels, die Fragilität des Friedens in der westlichen Welt, die Ausbreitung neuer Seuchen und drohende Antibiotikaresistenzen mahnen neue Phasen der Unsicherheit und des Mangels an. Verzicht hätte dann weniger mit Identität denn mit Verfügbarkeit zu tun. 

Der Beitrag steht in Verbindung mit dem aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekt „Verdinglichung des Lebendigen. Fleisch als Kulturgut“ (Förderkennzeichen 01UO1817A). Weiterführende Informationen zu Projekt und Verantwortlichen unter http://fleischwissen. blogspot.com/ (6.12.2019).

Ein Beitrag des Bundeszentrums für Ernährung (BZfE) von Dr. Lars Winterberg und Prof. Dr. Gunther Hirschfelder; erschienen in der BZfE-Fachzeitschrift Ernährung im Fokus 01_2020. https://www.bzfe.de/ernaehrung-im-fokus/


FÜR DAS AUTORENTEAM

Dr. Lars Winterberg studierte Volkskunde, Psychologie und Germanistik in Bonn. 2016 erfolgte die Promotion in Regensburg. Zwischen 2008 und 2018 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten in Bonn, Saarbrücken, Regensburg und Mainz tätig. Aktuell koordiniert er für die Universität Regensburg den BMBF-Forschungsverbund „Verdinglichung des Lebendigen: Fleisch als Kulturgut“.

Dr. Lars Winterberg, Universitätsstr. 31, 93053 Regensburg, lars.winterberg@ur.de, gunther.hirschfelder@ur.de