Hungrig – satt – prekär. 

Essen und Nichtessen in unsicheren Lebenslagen


Prof. DR. GUNTHER HIRSCHFELDER • SARAH THANNER

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Vom Wohlstand der Nachkriegsjahre profitierten fast alle: Die Einkommen stiegen, gleichzeitig sank der Preis für Lebensmittel. Seit den 1990er-Jahren sind gegenläufige Bewegungen erkennbar. Die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, die Globalisierung, dann die Digitalisierung und schließlich die Liberalisierung des Arbeitsmarkts führten dazu, dass sich die soziale Schere wieder öffnete. Armut erscheint heute in neuem Gewand.

Als sich Mitteleuropa nach den 1950er-Jahren immer schneller von den Katastrophen der Weltkriege erholte, blickte man optimistisch in die Zukunft. Der Hunger, so lautete die gängige Meinung, sei endgültig überwunden. Mit Blick auf die Wirtschaftswunderzeit sprach man dann von der „Fresswelle“ – was ebenso liebevoll wie humoristisch gemeint war. Vom Wohlstand profitierten fast alle: die Einkommen stiegen, der Preis für Lebensmittel sank. Seit den 1990er-Jahren sind gegenläufige Bewegungen zu verzeichnen. Die Öffnung jener Grenzen, die als „Eiserner Vorhang“ bezeichnet worden waren, die Globalisierung, dann die Digitalisierung und schließlich die Liberalisierung des Arbeitsmarkts führten dazu, dass sich die soziale Schere wieder öffnete. Armut entstand in neuem Gewand.

Heute spricht man im Kontext der Lebensumstände jener Menschen, die sozial abgestiegen sind, von Prekariat. Die sozialen Sicherungssysteme sind derzeit so stabil, dass zumindest jene, die sich durch das Dickicht des Sozialantragswesens kämpfen können, nicht von Hunger bedroht sind. Aber Prekarität meint nicht allein reale Armut, sondern vor allem Verunsicherung. Dieses Gefühl wirkt massiv auf Planungshorizonte und verursacht erheblichen psychosozialen Stress, der sich auch auf die Ernährung auswirkt.

Hunger als anthropologische Konstante

Essen ist unverzichtbar und gehört zu den wichtigsten kulturellen Praxen des Alltags. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen wurde und wird Essen täglich realisiert – wir bezeichnen die Ernährung daher als „soziales Totalphänomen“. Dabei spielten die Vermeidung von Hunger im Allgemeinen und das Nicht-Essen im Besonderen über lange Phasen hinweg eine entscheidende Rolle. Deshalb ist die Geschichte der Ernährung ohne die Geschichte des Hungers nicht zu verstehen (Aselmeyer, Settele 2018).

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Über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg kam es immer wieder und regelmäßig zu massiven Hungersnöten. Periodische Kalorienunterversorgung verschonte allenfalls die kleine Oberschicht. Erst die in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung befreite Europa aus der Hungerfalle. Grundsätzlich blieb es Privileg der Reichen, regelmäßig viel und gut zu essen. Auch im Zuge von Krisenzeiten und zwei Weltkriegen prägten massive Hungererfahrungen den Ernährungsalltag der westlichen Gesellschaften bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt der nun stark gestiegene Konsum von energiedichten und hochkalorischen Speisen – vor allem der während der Kriegsjahre nicht oder kaum erhältlichen tierischen Produkte wie Fleisch, Milch, Ei und Butter – reflexhaft als Ausdruck von Wohlstand und damit als kulturelle Errungenschaft. Auch wenn in den Sozialstaaten BRD und DDR kaum mehr Hungererfahrungen auftraten, blieben Perioden des Mangels tief im kulturellen Gedächtnis eingraviert (Hirschfelder 2005).

Während reduzierte Nahrungsaufnahme heute als asketisches Leitideal gilt, sind Unterversorgung und daraus resultierende Symptome und Krankheiten in vielen Teilen der Welt auch in der Gegenwart präsent. Allerdings übersteigt mittlerweile die Zahl der Überernährten mit 1,9 Milliarden die Zahl der Hungernden von etwa einer Milliarde (World Health Organisation 2018). Die Ursachen für den globalen Hunger sind divers: Während in den Subsahara-Staaten defizitäre Agrarstrukturen und Ressourcenkämpfe eine tragende Rolle spielen, die durch den Klimawandel nochmals erheblich an Gewicht gewinnen, sind im vorderasiatischen Raum eher militärische und politische Krisen ausschlaggebend. Im Kontext von Flucht und Migration haben jedenfalls heute viele Menschen, die nach Deutschland kommen, erschütternde persönliche Mangel- und Hungererfahrungen gemacht und bringen diese als kulturelles Gepäck mit.

Auch wenn in den postindustriellen Globalgesellschaften Hungerkrisen und Mangelernährung überwunden scheinen, so prägen Prekarität und relative Armut den Ernährungsalltag vieler Menschen. Die Grau- und Übergangszonen von Flucht, Altersarmut, Krankheit und Erwerbslosigkeit umfassen einen fast unbekannten und im Schatten der Forschungsinteressen liegenden alimentären Alltag, der prekäre Lebensverhältnisse als einen von der Wissenschaft bisher vernachlässigten Forschungsgegenstand erscheinen lässt.


Prekäre Milieus?

In der Frage nach der gesunden, richtigen oder ausgewogenen Ernährung spiegeln sich zentrale gesellschaftliche Diskurse: von den weitreichenden ökologischen Auswirkungen der globalen Nahrungsmittelproduktion und -distribution über Verteilungsgerechtigkeit und soziale Ungleichheit bis hin zur persönlichen Gesundheit und ethischen Fragen nach dem Tierwohl (Hirschfelder, Wittmann 2015).

Was aber, wenn das finanzielle Budget nicht ausreicht, um sich gesund, ausgewogen und gleichzeitig noch nachhaltig zu ernähren? Häufig münden Diskussionen um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen gesunder und ethisch vertretbarer Ernährung in Forderungen nach ernährungsbildenden und sozialpolitischen Maßnahmen sowie der Bezugnahme auf „prekäre Milieus“. Dabei fällt auf, dass diese oft als „das negative Außen einer individualisierten Leistungsgesellschaft“ (Marchart 2013:16) gelten, als ein kleiner Teil von Menschen „am Rande der Gesellschaft“.

Eine solche definitorische Engführung birgt die Gefahr, den Blick auf die Vielschichtigkeit prekärer Lebenslagen zu verstellen. Wenn der französische Soziologe Pierre Bourdieu schon 1997 konstatierte: „Prekarität ist überall“, dann bezog er sich damit insbesondere auf die Feststellung, dass Prekarität im Sinne einer Verunsicherung im Lebenszusammenhang nicht nur einen „unteren Rand“ der Gesellschaft betrifft. Die Verunsicherung prägt den Alltag weiter Bevölkerungsteile und müsse als gesellschaftlicher Regulationsmechanismus verstanden werden (Bourdieu 1998). Damit macht Bourdieu auf Verunsicherung im Sinne einer gesellschaftlichen Logik aufmerksam, wie sie zum Beispiel in der zunehmenden Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zum Ausdruck kommt. Diese wirkt auf die Mitglieder der Gesellschaft zurück und beeinflusst individuelle Lebensentwürfe.

Auch die Vergleichende Kulturwissenschaft betrachtet Prekarität als ein Phänomen, das sich nicht allein an den objektiven finanziellen Verhältnissen ablesen lässt, sondern immer im Zusammenspiel von subjektiven Wahrnehmungen, strukturellen Verhältnissen und soziohistorischen Prozessen zu betrachten ist. Dementsprechend kann Prekarität ganz unterschiedliche Ausprägungen haben und „gefühlte Prekaritäten“ erzeugen. So lassen sich Verunsicherung im Lebenszusammenhang und ihr Niederschlag im Essalltag als Querschnittsdimension durch die Gesellschaft betrachten (Götz, Lemberger 2009).

Studie: Prekäre Lebenswelten im Prisma der Ernährung

In einer Studie zu prekären Lebenswelten an der Universität Regensburg wurden Menschen in primär finanziell prekären Lebenslagen im Rahmen von qualitativen biografischen Interviews zu ihrer Lebens- und Ernährungssituation befragt; das Spektrum reichte von alleinerziehenden Müttern, Nutzern der Tafel, Wohnungs- und/oder Arbeitslosen oder Ruheständlern über psychisch Erkrankte bis zu Studierenden, die ihre Ausbildung in prekären finanziellen Verhältnissen bestreiten (Hirschfelder, Thanner 2019).

Dabei wurde vor allem deutlich: das Prekäre an sich gibt es nicht. Gewiss gewährleistet die ökonomische Lage von Menschen und sozialen Gruppen im Vergleich zum Durchschnittseinkommen eine erste Annäherung, doch auf das subjektive Erleben lassen sich daraus kaum Rückschlüsse ziehen. Dass erlebtes Prekarität nicht nur eine Frage des Einkommens ist, zeigten die einzelnen Fallstudien deutlich. Hier wurde ersichtlich, dass die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation und das eigene Ernährungshandeln weit stärker von den Parametern „soziale Integration“, „physische und psychische Gesundheit“, „Planungs- und Zukunftshorizont“ sowie der subjektiven Wahrnehmung, die sich im Zusammenspiel dieser Parameter herausbildet, abhängen.








Hunger ist in vielen Teilen der Welt präsent, auch in Deutschland.

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Ohnmachtsempfindungen im Ernährungsalltag

Brüchige (Arbeits-)Biografien und lebensweltliche Verunsicherungen wirken in hohem Maß auf die alltägliche Nahrungsroutine ein. So berichteten die Befragten, dass Verzehrrhythmen und Einkaufsroutinen abhandenkommen – etwa nach dem Jobverlust oder bei Studierenden in den Semesterferien. Gerade wenn Menschen aufgrund fehlender Finanzmittel in instabilen Wohnverhältnissen leben, sind Nahrungsmittel und Zubereitungsmöglichkeiten oft nur eingeschränkt verfügbar.

Zwar gibt es für Menschen in prekären Lebenslagen zahlreiche Anlaufstellen wie etwa die Tafeln, doch wird der Wegfall von Stabilität und zeitlicher Vorhersagbarkeit zur Chiffre für Sinnverlust, Planungsunfähigkeit und Motivationslosigkeit – Ohnmachtserfahrungen, die stark auf die Ernährung zurückwirken. Dabei sind jene Vorstellungen oder Nicht-Vorstellungen, die Menschen von ihrer eigenen biografischen Zukunft haben, stets davon abhängig, ob die prekären Lebensumstände als vorübergehend oder mehr oder weniger dauerhaft angesehen werden.

Studierende etwa verstehen ihre eigene finanzielle Situation meist als temporäre Phase im jungen Erwachsenenalter, die sie in Erwartung ökonomischen Aufstiegs nach dem Studium ohne den Verlust gesellschaftlichen Ansehens durchleben. Der 21-jährige Student Nico etwa (alle Namen sind Pseudonyme) berichtete im Interview beinahe stolz von sich als einem zu Verzicht fähigen „Kontrollkäufer“, der trotz eingeschränkter Finanzlage ökologie- und nachhaltigkeitsrelevanten Aspekten hohen Stellenwert einräumt.

Ganz anders verhält es sich, wenn der eigene Lebenszusammenhang weit auswegloser wirkt: Fast selbstironisch erzählte beispielsweise der Wohnungs- und Arbeitslose Dennis, 26 Jahre, im Interview: „Also derzeit würde es bei mir nie Brokkoli dazugeben.“ Sein ihm zur Verfügung stehendes Einkommen „würde an sich reichen, wenn man ʼnen Kühlschrank und das alles hätte.“ Gesunde Ernährung erfordert einen stabilen Lebenskontext – Dennis jedoch pendelt zwischen Hungerphasen und Heißhungerattacken hin und her. Gerade wenn sie den eigenen Lebenszusammenhang als Ohnmachtserfahrung verarbeiten, lagern Betroffene Entwürfe eines gesünderen Lebensstils häufig in eine imaginäre Zukunft aus. So erzählte Dennis, dass er davon träume, sein Zutatenspektrum zu erweitern, mehr Gemüse zu essen und weniger Fertigprodukte zu konsumieren. Auf diese Zukunft arbeitet Dennis jedoch aufgrund seines krisenhaften Lebenszusammenhangs nicht konkret hin; stattdessen verbleibt sie als fiktiver Sehnsuchtsort, zusammen mit dem Wunsch nach einem regulären Beschäftigungsverhältnis.

Soziale Ressourcen als Gradmesser

Ebenso zentral erweist sich die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation hinsichtlich des Faktors „soziale Integration“. Gefühlter sozialer Rückhalt kann die Verarbeitung und Bewältigung des Prekären ungeachtet struktureller Kriterien maßgeblich beeinflussen. So steht auch die erlebte Ohnmacht immer im Zusammenhang mit dem gefühlten Grad an sozialer (Des-)Integration.

Einsamkeit und Isolation erzeugen ein Vakuum, das nicht zuletzt in der Frage nach der sozialen Verzehrsituation und ihrer zentralen vergesellschaftenden wie gemeinschaftsstiftenden Funktion gipfelt. Das vermittelt die Patientin eines sozialpsychiatrischen Tageszentrums eindrücklich: Für Anna ist die Aufrechterhaltung der täglichen Mahlzeitenroutine in ihrem von Brüchen gekennzeichneten Alltag zentrales Instrument sowie sozialer Ankerpunkt, um Chronologie und Normalität zu stiften.

Ob Erfahrungen sozialer Integration, Selbstisolation aufgrund von Schamgefühlen oder die gezielte und erfolgreiche Aufrechterhaltung gemeinschaftlicher Nahrungsaufnahme in unsicheren Lebenslagen – der soziale Rahmen, in dem Mahlzeiten täglich stattfinden, wirkt stark auf die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation und der gefühlten Prekarität. Beim Thema soziale Ressourcen sind es häufig Schamgefühle oder Stigmatisierungserfahrungen, die eine Selbstverortung im ökonomischen Abstieg zementieren und auf das Ernährungshandeln zurückwirken.

Die alleinerziehende Mutter Andrea, die regelmäßig Lebensmittel von der Tafel bezieht, erklärt im Interview etwa, dass sie einer gesunden und nachhaltigen Ernährungsweise wenig abgewinnen kann und konstatiert in demonstrativer Gegenhaltung: „Gebt mir lieber ein Stück Fleisch mehr und lasst das andere Zeug für die, die es haben wollen.“ Der jungen Mutter geht es darum, beim Grillen mit ökonomisch besser gestellten Freunden nicht als Tafelkundin enttarnt zu werden – ganz egal woher das Fleisch dafür stammt. Als Gradmesser der ökonomischen Lage und damit einhergehender Statuszuschreibungen besaß der Konsum von Fleisch lange eine zentrale Funktion als Zeichen von Wohlstand (Trummer 2015). Seit Ende des 20. Jahrhunderts zeichnet sich hier in den westlichen Industrienationen allerdings die Umkehrung einer bislang prägenden kulturellen Konstante ab: Durch die zunehmende Wahrnehmung von Fleisch als ökologisch und ethisch problematischem Nahrungsmittel im Zuge von Lebensmittelskandalen und Massentierhaltung sind es nun überwiegend die bildungsaffinen und einkommensstärkeren Schichten, die bewusst auf tierische Lebensmittel verzichten und der sozialen Erwünschtheit eines nachhaltigen Lebensstils folgen (Egloff, Pfeifer 2018; Grube 2006).

In prekären Lebenswelten sind Wahl- und Mengenfreiheit gerade vor dem Hintergrund mangelnder Leistbarkeit oder gezwungener Sparsamkeit schützenswertes Moment des eigenen Entscheidungsspielraums.

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In prekären Lebenslagen treten Bemühungen um eine ausgewogene Ernährung in den Hintergrund.

Umgang mit der eigenen Gesundheit

Prekäre Lebenslagen sind durch eine paradoxe kausale Verkettung von psychischer Belastung und Ohnmachtsempfinden gekennzeichnet. Kompensatorische Handlungen – von gesteigertem Genussmittelkonsum über stark zucker- und fetthaltige Lebensmittel – dienen Menschen in krisenhaften Phasen daher umso mehr als Ausgleichsventile und erfüllen eine psychologische Belohnungsfunktion, die der Lebenskontext anderweitig nicht hergibt. Spezifische Lebensmittel wie Fast Food erfahren oft emotionale Aufwertung: So berichtete etwa der arbeitslose Projektingenieur Michael, dass sich sein Fast-Food-Konsum gerade nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle gesteigert und seine finanzielle Situation damit noch verschlimmert habe.

Signifikant zeigt sich in den Interviews die häufige Thematisierung der mentalen Gesundheit im Rahmen von psychischen Überlastungserscheinungen und Depressionen. Gerade in prekären Lebenslagen besteht eine deutliche Verbindung zwischen der subjektiven Wahrnehmung und Verarbeitung der eigenen Lebensumstände sowie dem Hin- und Herpendeln zwischen Einsicht und entgegengesetztem Handeln. Das geschieht häufig, obwohl das eigene Ernährungshandeln als ungesund bewertet wird. Das geradezu vehemente Festhalten an kompensatorischen Esspraxen erscheint aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Nahrungsforschung als durchaus plausibles Muster.

Fazit und Empfehlungen

Die Analyse prekärer Lebenswelten im Prisma der Ernährung am Regensburger Beispiel zeigt: Ernährungswissen, Kochkompetenzen und ausreichendes Budget sind durchaus zentrale Voraussetzungen für eine gesunde Ernährung. Aber die Selbstwahrnehmung der eigenen prekären Situation überschattet das konkrete Ernährungshandeln im Alltag. Es ist gerade die individuelle Einschätzung der Ausweglosigkeit der eigenen Lebensumstände, die das individuelle Ernährungsverhalten teilweise ungünstig beeinflusst.

Ob positiv konnotierte Kontrolle im Umgang mit begrenzter Budgetierung oder leidvoll empfundene finanzielle Einschränkung – der Griff ins Lebensmittelregal und das Berichten darüber sind gleichermaßen durch die eigene Ernährungssozialisation im elterlichen Umfeld sowie durch Erfahrungen von Mangel, Hunger und sozioökonomischem Abstieg geprägt. Das Oszillieren zwischen Einsicht und entgegengesetztem Handeln stellt sich als komplexes Bedingungsgefüge dar, dem pädagogische Hinweise zur gesundheitlich oder ökologisch „richtigen“ Ernährung, die nicht bereits in der frühkindlichen Sozialisation angelegt sind, nur sehr schwer einflussnehmend beikommen können.

Wenn die klassische Ernährungskommunikation weiterhin Erfolg haben und breite Bevölkerungsschichten erreichen will, sollte sie berücksichtigen, dass Essen oft als Bewältigungsstrategie von Verunsicherung und finanzieller Einschränkung dient – es bleibt eine in hohem Maße kulturell und psychologisch determinierte Praxis. Wenn  Ernährungskommunikation Menschen in prekären Lebenssituationen erfolgreich begegnen möchte, muss sie den spezifischen Befindlichkeiten dieser Gruppe Rechnung tragen, ihre Ernährungspraxen als Resultat ihrer sozioökonomischen Krise begreifen und Ernährungsaufklärung mit Sozialarbeit verbinden.

Ein Beitrag des Bundeszentrums für Ernährung (BZfE) von Prof. Dr. Gunther Hirschfelder und Sarah Thanner; erschienen in der BZfE-Fachzeitschrift Ernährung im Fokus 02_2020. https://www.bzfe.de/ernaehrung-im-fokus/


FÜR DAS AUTORENTEAM

Sarah Thanner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt VIGITIA an der Universität Regensburg. Zu ihren Forschungsfeldern gehören Arbeitskulturen, prekäre Lebenswelten sowie Digitalisierung im Alltag.

Sarah Thanner, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg, Sarah1.Thanner@ur.de