Wege aus der Digitalisierungsfalle

Ernährungskommunikation und Ernährungsbildung

DR. GUNTHER HIRSCHFELDER

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Ernährungsbildung ist heute überall. Guten Tipps zu einer gesundheitsfördernden Ernährung, die Spaß macht und die Umwelt schont, kann man kaum entrinnen. Vom Bioladen ausgehend hat sich eine ganze Themenlawine vorgearbeitet und ist längst im Discounter angekommen. Unterfüttert wird die Informationsflut von einer analogen und zunehmend auch digitalen Belehrungsoffensive, die Kinder und Jugendliche seit nunmehr zwei Generationen unter Dauerfeuer nimmt. Trotzdem essen viele Kinder immer noch gerne Eis, mögen Jugendliche Energy-Drinks und Kantinengänger Currywurst. Diese Lücke zwischen Ernährungswissen und Ess-Praxis ist nicht paradox, sondern logisch. Dabei spielt die digitale Ernährungskommunikation eine Schlüsselrolle.

Geschichte eines Konflikts

In historischer Perspektive zeigt sich für das analoge Zeitalter eine lange Entwicklungslinie:

Theorie und Praxis standen damals wie heute in einem gewissen Spannungsverhältnis: Es ist das Schicksal hochkultureller Ernährungsleitlinien, dass sie allenfalls bedingt in die Praxis umgesetzt werden (Neumann 2005). Schließlich funktioniert die individuelle Ernährungssozialisation weniger über theoretische Leitlinien als über das soziale Umfeld. Zudem war die Lebensmittelauswahl begrenzt und folgte eher funktionalen Faktoren. Vor allem in der Vormoderne war Sättigung wichtiger als Hedonismus.

Zaghaft änderte sich das in den 1960er-Jahren, als das Wirtschaftswunder seine volle Wirkung entfaltet hatte und Deutschland in Ost und West eine Phase von Wohlstand und Aufschwung erlebte. „Genuss ohne Reue“ war nicht nur Slogan, sondern Leitperspektive des Konsums. Nach Weltkrieg und Diktatur war Ernährung auch eine Facette von Freiheit, und der Fokus der Gesellschaft lag eher auf Wiederaufbau, Mobilität und Konsum als auf Ernährungsdiktaten. Und auch die Wissenschaft fokussierte erst allmählich auf das Thema. Zwar hatte bereits Justus von Liebig (1803–1873) nachgewiesen, welche Nährstoffgruppen pflanzliche, tierische und menschliche Organismen aufgrund ihrer chemischen Funktionen für Energiekreislauf und Stoffwechsel benötigen (Bässler 1992). Die Ernährungslehre avancierte aber erst zu Beginn der 1950er-Jahre in England und wenig später auch in Deutschland zu einer eigenständigen akademischen Disziplin: Im November 1956 nahm der Arzt Hans-Diedrich Cremer die Professur für „Menschliche Ernährungslehre“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen an. 1963 wurde dort der Studiengang „Haushalts- und Ernährungswissenschaften“ (Ökotrophologie) etabliert (Rehner 2007). Allerdings fand Ernährungsbildung im engeren Sinn noch lange im Hauswirtschaftsunterricht statt; außerhalb der Schule in jenen Berufen, die etwas mit Gemeinschafts- und Krankenverpflegung zu tun hatten. Diese waren primär weiblich. Gesamtgesellschaftlich war Ernährungsbildung marginal, das Problembewusstsein schwach ausgeprägt, früher Tod infolge von erhöhtem Alkohol- und Tabakkonsum kaum ein Problem. Für diese Zeit galt: Die Beschäftigung mit der Ernährung fokussierte nicht primär auf Inhaltsstoffe und ihrer physiologischen Wirkung, sondern vor allem auf die Menge. Viel zu essen war wichtig, energiedichte Speisen galten als gesund (Hirschfelder 2005). Ernährungsbildung erfolgte weniger über wissenschaftsinstitutionelle Strukturen als vielmehr über Werbung für Zigaretten, Bier oder die jungen Convenience-Produkte. Über „gesunde Ernährung“ wurde nicht viel Aufhebens gemacht: Der Ost-West-Konflikt, die Ideologien oder auch die Reize des Kapitalismus standen wesentlich intensiver in der Diskussion. „Künstliche Kost“ wurde laut Spiekermann (2018) wertiger wahrgenommen als natürliche. Deshalb konnte zum Beispiel der aromatisierte Zuckersirup Tri Top in den 1970er-Jahren zu einer Erfolgsgeschichte werden.

Zu dieser Zeit tauchte eine neue Dimension der Ernährungsbildung am Horizont auf. Sie war weniger stofflich als vielmehr ideologisch orientiert. Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre war Rachel Carsons Bestseller „Silent Spring“ in Deutschland große Aufmerksamkeit zuteil geworden (Carson 1963). Die Angst vor stummem Frühling und verödeter Welt gravierte sich in der Folgezeit ins kollektive Bewusstsein ein, begünstigt durch die Chemisierung der Landwirtschaft, die Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome 1972 (Meadows, Meadows, Zahn 1972) und die Ölkrise 1973. Ernährung war für einen Teil der medialen Öffentlichkeit weniger eine Frage von Gesundheit als eher von notwendigem Schutz der Welt vor industrieller Zerstörung (Grossarth 2018). Für den anderen Teil ging es einfach nur um Genuss und Geselligkeit: Im Oktober 1972 ging die Zeitschrift „Essen & Trinken“ mit einer Auflage von 400.000 in Deutschland an den Start. Mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 folgten Ängste vor atomarer Strahlung und chemisierter Landwirtschaft, die ihren Niederschlag in den Diskussionen um gesunde Ernährung fand, die vor allem als strahlen- und giftfrei verstanden wurde (Hirschfelder 2018).

Ernährungsbildung unter Konkurrenzdruck

Als die institutionelle Ernährungsbildung in Deutschland Fahrt aufnahm, bauten sich neue Widerstände auf. Denn Essen wandelte sich von einem durch Tradition und Sozialisation geprägten und primär stofflich wahrgenommenen zu einem symbolischen Akt. Um 1990 fiel die deutsche Einheit mit einer Zeitenwende zusammen, deren Schlagworte Globalisierung, Digitalisierung und – in Bezug auf die großen politischen Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts – Entideologisierung lauteten. Aus den nivellierten Mittelstandsgesellschaften, in denen man sein Verhalten an Herkunft, Stand und Tradition orientiert hatte, wurden moderne Lebensstilgesellschaften, in denen sich Menschen plötzlich individuell verorten mussten. Lebensstile wollen dokumentiert werden, und eines der wichtigsten Kommunikationsmittel ist das Essen. Superfood, Vegetarismus oder Clean-Eating sind dabei immer auch Bekenntnis: Mahlzeiten werden in sozialen Netzwerken gepostet und zudem zu Inhalten von Narration, Kommunikation und performativer Selbstinszenierung. Nahrungsmittel und die Kommunikation über Nahrungsmittel sind oft bedeutender als die Inhaltsstoffe selbst. Energy-Drinks oder amerikanische Steaks sind insofern nicht nur in ihrer Stofflichkeit interessant, sondern gerade auch als Kommunikationsmittel (Franken, Hirschfelder 2016). Was wir essen, posten wir, wir reden darüber, zeigen, was wir uns leisten können oder wie wir die Welt gerne hätten – nachhaltig oder als Ressource des Konsums. Die neuen Pole in dieser Kommunikation sind nicht mehr Kommunismus und Kapitalismus, sondern Urban Gardening oder Veganismus auf der einen und zum Beispiel Wagyu-Rind auf dem Hightech-Grill auf der anderen Seite. Diese symbolische Aufladung der Ernährung führte zu einer massiven Verwirrung der Verbraucher (consumer-confusion, Egert, Watz, Lorkowski 2018), die durch die mediale Thematisierungskonjunktur der Ernährung noch verstärkt wurde. So denken viele ständig über das Essen nach und stellen es in Frage: Macht Käse dick? Verursacht rotes Fleisch Krebs? Wirkt eine basische Ernährung lebensverlängernd? Die massive Fokussierung auf das Essen folgt letztlich einer gesellschaftlichen Logik, denn die spätkapitalistische Globalgesellschaft mit ihrer permanenten Unsicherheit führt dazu, dass sich junge Menschen in ihren biografischen Chancen bedroht fühlen. Ein gesunder und starker Körper wird auf diese Weise zur Chiffre für die Bereitschaft, einem dynamischen Arbeitsmarkt willig zur Verfügung zu stehen. Nicht zuletzt deshalb sehen Abiturbälle heute aus wie Hollywood-Castings, schon Heranwachsende folgen Eiweißdiäten zum Muskelaufbau. Ernährung ist Symbol und Werkzeug gleichermaßen – viele nehmen sie vor allem in diesen Kontexten wahr und kommunizieren entsprechend. Institutionalisierte Ernährungsbildung hat es unter diesen Bedingungen schwer, denn sie tritt in Konkurrenz zu den medialen, symbolischen und werbekapitalistischen Imperativen.  

Ernährungskommunikation als  pädagogische Herausforderung

Kinder und Jugendliche sind die bevorzugte Zielgruppe der Ernährungsbildung. Zu Recht. Aber vor allem Jugendliche sehen sich heute schwierigen Rahmenbedingungen ausgesetzt. In unserer dynamischen Gesellschaft müssen sie ihre Biografie designen, Chancen identifizieren und nutzen. Hinzu kommt: Das Begriffspaar Gesundheit/Ernährung ist zum vorherrschenden Faktor von Narration und Selbstdarstellung in sozialen Medien geworden und damit zum Mittel der Selbstverortung (Hirschfelder 2018). Dass Jugendliche unter diesen Umständen wenig Bereitschaft zeigen, sich für Ernährungsregeln zu begeistern, vor allem wenn sie im Imperativ vorgebracht werden, liegt auf der Hand. Genauso gut könnte man Empfehlungen für die Partnerwahl abgeben. Ernährungsbildungskonzepte, die über die Stofflichkeit argumentieren, bringen Jugendliche daher in eine Konfliktsituation. Folglich ist ein Paradigmenwechsel vonnöten, weg von der Ernährungsbildung und hin zu einer Ernährungskommunikation. Lebensrealitäten, Wünsche und Vorlieben oder das Verständnis, dass Ernährung auch eine Bewältigungsstrategie sein kann (Hirschfelder, Wittmann 2014), müssen dabei gleichberechtigt neben den wissenschaftlichen Ernährungszielen stehen und mit diesen in eine Schnittmenge gesetzt werden. Auf dieser Basis wäre dann partnerschaftlich zu diskutieren, für welche Ernährungswege (im Plural!) sich Jugendliche bewusst und aktiv entscheiden wollen. Dabei brauchen sie Hilfe, denn für diese schwierigen Entscheidungen ist Expertise notwendig. Nicht nur was die erforderlichen Nährstoffmengen oder die gängigen Risiken falscher Ernährung betrifft, sondern vor allem hinsichtlich der Produkte und ihrer Zubereitung: Woran erkennt man im Geschäft gute Avocados oder frische Möhren? Und was macht man in der Küche damit? All das ließe sich leicht umsetzen – wenn Staat, Kindertagesstätten und Schulen in der Lage und bereit wären, dafür Geld zur Verfügung zu stellen und institutionelle Räume zu schaffen. Das werden sie kurzfristig kaum. So bleibt nur Selbsthilfe. Die durchaus realisierbar ist: Warum nicht im Sportverein über den Zusammenhang von Leistung und Ernährung diskutieren und danach handeln? Warum nicht im Chemieunterricht kochen und dabei Aggregatzustände, Osmose und Diffusion erklären? Aber es geht auch niedrigschwelliger – in jedem Schulfach, in jedem Gespräch. Denn Ernährung ist vor allem Kommunikation und Kultur.    

Tablet und Handy ersetzen heute vor allem bei jungen Leuten oft das Kochbuch.
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Ernährungskommunikation: ritualisiertes Update

Ernährungsbildung und Ernährungskommunikation weisen markante Parallelen zu den Religionen und ihrer Umsetzung in soziale Realität auf. Es handelt sich jeweils um Idealkonzepte, die über Imperative kommuniziert werden. Aber während die christlichen Kirchen a priori davon ausgehen, dass sich die Gläubigen den Geboten nur annähern können, dass die konsequente Befolgung des Dekalogs immer wieder geübt werden muss, aber kaum je gelingt, wundert sich die Ernährungsbildung immer noch über den uneinsichtigen Adressaten. Denn Ernährungsbildung und Kultur klaffen in der Regel weit auseinander, allen voran der Bereich der Genussmittel. Obgleich das Wissen um die Gefahren Allgemeingut ist, bleibt riskantes Verhalten weit verbreitet (Hirschfelder 2018). Religionen haben die Institution Gottesdienst etabliert, die sich inzwischen bewährt hat. Der Gottesdienst schafft einen Raum, zentrale Themen regelmäßig und ergebnisoffen zu reflektieren und zu kommunizieren. Auch Ernährungsbildung könnte nach diesem Muster funktionieren, denn sie ist kein einmaliger Prozess, sondern sollte institutionalisiert, permanent eingeübt und dialogisch gestaltet werden. Der Imperativ als Kommunikationsform verbietet sich dabei. Ein spielerischer, forschender Zugang zum Thema Ernährung ist dabei evident, bestehende Praxen sollten nicht als „falsch“ deklariert werden. Selbst der Energy-Drink auf dem Schulhof ist per se nicht verkehrt, denn auch hier folgen junge Konsumenten lediglich einer klaren Logik, die es seitens der Pädagogik zu entschlüsseln gilt. Und schließlich ist die individuelle Stiftung von Verhaltenssicherheit durch tradierte Formen im Umgang mit Genussmitteln faktisch größer als die Verunsicherung, die das Wissen über Spätfolgen und Mortalitätsstatistiken verursacht (Lipinsky 2015). Im Dialog ließen sich also Fragen formulieren, die auf die Funktionsweisen von Statussymbolen oder Hedonismus abzielen. Man könnte gemeinsam überlegen, was eigentlich die Empfindung Ekel bedeutet, wie sich Identität über die eigene Ernährung definiert und woran es wohl liegen mag, dass bestimmte Lebensmittelprodukte gestern noch absolut hip waren, heute bei Jugendlichen aber ein No-Go sind. Übergeordnete Fragestellungen laden Jugendliche dazu ein, sich dem Thema Ernährung selbstreflektiert zu nähern und Reflexion ist immer auch der erste Schritt zu einer bewussten Ernährung. Derartige ernährungsbildende Angebote brauchen aber ihren festen Platz im wöchentlichen oder monatlichen Ablauf, um faktisch Eingang in die alltägliche Wahrnehmung der Jugendlichen zu finden. Einen einzigen Stimulus zu setzen reicht nicht aus, einen einzigen Projekttag zum Thema „Gesunde Ernährung“ beispielsweise würden Jugendliche wohl kaum ernst nehmen.

Ernährungskommunikation im Zeitalter der Kommunikation

Ernährungsbildung findet heute vor allem in Kindertagesstätte und Schule statt, zunehmend auch in anderen pädagogischen Kontexten. Im Internet steht so viel Material bereit, dass wir dafür kaum genug Aufmerksamkeit haben. Aber diese Kommunikationsmuster sind bislang überwiegend hierarchisiert. Seitdem die moderne Ernährungsbildung im 20. Jahrhundert entstand, wurden wissenschaftliche Resultate meist über zentrale Plattformen wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung in die Institutionen kommuniziert und von dort aus weiter vermittelt. Die Essregeln waren dabei primär stofflich orientiert und kaum verhandelbar. Immerhin haben wir dieser Form von Ernährungsbildung große Erfolge zu verdanken: ein in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitetes Wissen über grobe Richtlinien, welche Mengen an Fett und Kohlenhydraten empfehlenswert und dass Gemüse und Obst gesund sind. Gleichzeitig hat die digitale Welt des 21. Jahrhunderts die alte Bildungswelt zum Einsturz gebracht. Ernährungswissen wird heute nicht allein institutionell vermittelt, sondern findet über digitale Medien seinen Weg zu den Verbrauchern. Die Abkehr vom Analogen birgt ein sagenhaftes Versprechen, das nicht nur den Alltag von Jugendlichen nachhaltig beeinflusst: den Zugriff auf das gesamte Ernährungswissen, und zwar unmittelbar auf Abruf. Das Resultat stellt die Ernährungsbildung allerdings vor ein erhebliches Problem, denn an die Stelle vertrauenswürdiger Institutionen sind nun Akteure gerückt, die ihr oftmals ideologisiertes Wissen über netzbasierte, nichtlineare Kanäle verbreiten. Deutungshoheiten über das, was richtiges Ernährungsverhalten sein soll, haben sich disruptiv verschoben.

Im Internet findet sich ein ganzer Kosmos von meist als wissenschaftlich verbrämten Informationen über die Gesundheit respektive Schädlichkeit von Lebensmitteln, deren Wahrheitsgehalt an dieser Stelle nicht zur Diskussion steht. Massenhaft geteilte und damit kommunizierte Meldungen über Schweineborsten im Brot (Okoro 2015), die Wirksamkeit von bei Vollmond abgefülltem Wasser (Pons Nadal o .J.) oder Gift im Fleisch, das für den menschlichen Körper hochgefährlich sei (Mach die Augen auf o. J.), haben aber durchaus den Charakter von Fake News. Durch die netzbasierte Verbreitung vermeintlich glaubwürdiger Kommunikatoren erlangen diese Fakten den Charakter von Fake Facts. Wenn solche facts mit geschicktem storytelling vermittelt und gleichzeitig skandalisiert werden, ist große Aufmerksamkeit garantiert. Das gilt freilich auch für plausible und für die Ernährungswissenschaften akzeptable Informationen, wenn es etwa um die gesundheitsfördernde Wirkung von Sauerkraut geht (Zentrum der Gesundheit 2017).

Junge Konsumenten wählen diese Informationskanäle bewusst aus und entscheiden je nach Interessenlage, welche Informationen sie annehmen möchten, welchem YouTuber sie vertrauen. Somit haben diese neuen Influencer – wie sie von der Werbebranche genannt werden – spielerisch eines erreicht, was mittlerweile zum Existenzrecht aller Wissensvermittler geworden ist: sie haben Reichweite. Die Stars der neuen Social-Media-Plattformen, zu denen Sophia Thiel, Lefloid und AlexV, aber auch Attila Hildmann oder Ingo Froböse zählen, haben akzeptiert, dass Ernährung für ihre Zielgruppe immer auch Bekenntnis zu ihrem präferierten Lifestyle bedeutet. Wichtig dabei ist, dass die Lebensstile heute als Ernährungsstile ausgebildet werden, die weit mehr sind als Mode – nämlich Bekenntnis und Orientierungsanker. Angebote an Jugendliche in Sachen Ernährungsbildung haben daher deutlich nachhaltigere Chancen, wenn pädagogische Fachkräfte verstehen, dass beispielsweise der neueste Food-Haul von SaskiasBeautyBlog (SaskiasBeautyBlog 2017) auf YouTube größeren Einfluss auf das Ernährungsverhalten hat als alle institutionellen Angebote. Ernährungsempfehlungen, die vorwiegend auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, können in der Alltagsrealität nicht gut funktionieren, da Menschen beim Essen und Trinken vermeintlich irrational, in Wirklichkeit aber einfach emotional handeln (Schreckhaas 2018). Außerdem ist es für viele Jugendliche ohnehin zweitrangig, welche Stoffe ein Lebensmittel beinhaltet. Viel wichtiger sind seine Symbolik und die Frage, ob Nahrungsmittel instagrammable sind, also ob sie sich visuell im eigenen Social-Media-Kanal vorteilhaft darstellen lassen.

Kommunikation unter den Bedingungen der sozialen und ethnischen Schere

Kommunikation ist Informationsaustausch. Sie geschieht vom Sender zum Empfänger. Je größer der Grad an Akzeptanz und Kompatibilität ist, desto mehr Information lässt sich erfolgreich übermitteln. In geschlossenen sozialen Kreisen funktioniert Ernährungsbildung daher recht gut, zumal wenn nicht nur Akzeptanz für das Thema vorhanden ist, sondern auch soziale Kontrolle. Beispielsweise haben Verhaltensimperative in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der Bonner Republik recht gut funktioniert, in der DDR sowieso. Im 21. Jahrhundert öffnen sich nun diverse soziale Scheren: Einige ethnische oder religiöse Gemeinschaften verleihen ihren selbstgewählten oder akkulturationsimmanenten Abgrenzungstendenzen durch spezifische Ernährungsstile Ausdruck oder sie reagieren mit Abschottung auf Angliederungsdruck.

Ethnische, religiöse oder soziale Gruppen zum Beispiel nutzen verschiedene Ernährungsstilezur Identitätsstiftung und Abgrenzung voneinander.
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Andere Gruppierungen werden sozial und ökonomisch abgesondert. Das betrifft insbesondere Menschen am unteren Ende der Einkommens- und Bildungsskala. Ernährungsbildung muss genau hier ansetzen. Die Bildungselite der urbanen Kreativregionen bedarf kaum weiterer Belehrung und Aufklärung. Menschen, bei denen das Ernährungsoptimierungspotenzial deutlich identifizierbar ist, sind dagegen häufig nur über schwache Kommunikationsbrücken mit jenen verbunden, die Ernährungswissen bereithalten: Langzeitarbeitslose und teils kaum integrierte Migrierte aus den Armutsregionen des Balkan, aber auch Geflüchtete mit geringer formaler Bildung aus dem irakischen Sindschar-Gebirge oder aus Afghanistan. Nicht nur gänzlich andere Ernährungsmuster, sondern auch häufig auftretende sprachliche Barrieren und deutlich differente Gesundheits- und Krankheitskonzepte befinden sich im Gepäck der Migrierten (Hirschfelder 2018). Beispielsweise ist eine positive Wahrnehmung von Zucker zu beobachten, die fest verankert und kaum zu durchbrechen ist, denn Süßwaren und Softdrinks sind Symbol für Wohlstand und Fortschritt. Zucker ist in den Herkunftsregionen Asiens und der arabischen Welt das billigste Luxusgut und als Markenprodukt in Deutschland verzehrt Symbol, an der westlichen Konsumgesellschaft teilzuhaben. So lässt sich zum Beispiel die Beliebtheit von Energy-Drinks erklären, denn deren Konsum ist symbolisch: Wer sie konsumiert, der partizipiert am westlichen Lebensstil (Hirschfelder, Schreckhaas 2017). Zucker ist zudem leicht zu beschaffen, er ist halal, enthält weder Schwein noch Alkohol und gilt als durchaus gesund. Diese Meinung ist durch Kulturmuster, Tradition und Sozialisation fest eingraviert; das Muster zu durchbrechen, bedarf neuer Kommunikationswege.

Conclusio

Ernährungsbildung und Ernährungskommunikation haben seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine fundamentale Transformation erfahren. Um die Wende zum 21. Jahrhundert gerieten sie zunehmend auf die Erfolgsspur. Inzwischen hat die Digitalisierung zu neuen Kommunikationsstrukturen geführt. Diese sind nicht mehr hierarchisch, sondern asymmetrisch. Institutionengesteuerte Ernährungsinformation hat ihren Anspruch auf Deutungshoheit eingebüßt. Jugendliche und bald auch Kinder informieren sich über netzbasierte Kanäle verschiedenster Provenienz und verweben die Informationen mit performativen und kommunikativen Aspekten eines Lebensstils, der zunehmend zum Ernährungsstil und dabei auch zum symbolischen Kommunikationsmedium wird. Im digitalisierten Alltag gerade der Jugendlichen wird Ernährung heute eingesetzt, um Zugehörigkeit zu demonstrieren oder sich abzugrenzen.

Ernährung ist Kommunikation und Kommunikation ist immer auch Sprache. Eine Ernährungsbildung, die am Alltag Jugendlicher andocken will, muss die Grammatik dieser Sprache begreifen (Hirschfelder, Schreckhaas 2018). Dabei bedarf es seitens der Pädagogik keiner tiefgreifenden Medienanalyse, um zentrale Codes zu entschlüsseln. Fachkräfte sollten sich in einem ersten Schritt einfach mit den Kommunikationsplattformen vertraut machen, herausfinden, welche netzbasierten Kanäle genutzt werden. Denn wenn ein grundsätzliches Verständnis für die Bedürfniswelt Jugendlicher signalisiert wird, entsteht Bereitschaft zum Dialog und in der Folge ein bewusster, zumindest reflektierter Umgang mit Ernährung. Geboten ist aber auch eine digitale Ernährungsbildungsstrategie, die nicht hierarchisch, sondern dialogisch und interaktiv ist, die mit Jugendlichen redet und die nicht zu ihnen spricht. Dabei sollten neue Wege beschritten, jugendliche Netzaktivisten als Katalysatoren genutzt und weichere Ziele formuliert werden. Die Unterscheidung in falsche und richtige Ernährungsziele wird dabei ebenso wenig funktionieren wie bisher. Die Zeit der allgemeinen Ernährungsempfehlungen und Schautafeln mit Ernährungskreisen ist endgültig vorbei.


>> Die Literaturliste finden Sie im Internet unter „Literaturverzeichnisse“ als kostenfreie pdf-Datei. << 

Ein Beitrag des Bundeszentrums für Ernährung (BZfE) von Prof. Dr. Gunther Hirschfelder; erschienen in der BZfE-Fachzeitschrift Ernährung im Fokus 09–10 2018. https://www.bzfe.de/ernaehrung-im-fokus/


DER AUTOR

Gunther Hirschfelder studierte Geschichtswissenschaft, Politik, Volkskunde und Agrarwissenschaft an der Universität Bonn. 1992 erfolgte die Promotion an der Universität Trier. Nach der Post-Doc-Phase in Trier und Manchester, Habilitation und Professurvertretungen in Mainz und Bonn ist er seit 2010 Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.

Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg, gunther.hirschfelder@sprachlit.uni-regensburg.de